Die Gruppe Nebelhorn 1995-2012
10. Juni – 15. Juli 2012
In dieser Ausstellung zeigt die Gruppe Werke aus den unterschiedlichen Schaffensperioden, dazu gehören individuelle Arbeiten sowie Resultate aus Gruppenprojekten.
Hartmut Kraft
Nebelhörner geben Orientierung
Die Künstlergruppe mit dem bedeutungsvollen Namen „Nebelhorn“ fand sich im Sommer 1995 zusammen. Es war von Anfang an eine ungewöhnliche Gruppierung, in der Teilnehmer von Volkshochschulkursen mit den Bewohnern eines Behindertenwohnheims zusammen arbeiteten. Später kamen Bewohner des Lühlerheims für nicht sesshafte Menschen bei Schermbeck hinzu. Unter der Leitung des peruanischen Künstlers Raúl Avellaneda arbeiten seitdem 10 bis 20 Menschen an gemeinsamen kreativen Projekten oder auch an ihren eigenen Bildern, Skulpturen und Environments. Bereits im Juli 1996 fand eine erste Ausstellung im Rathaus von Schermbeck statt, der bis heute zahlreiche Ausstellungen gefolgt sind. Nun startet 2012 eine Wanderausstellung, die im Landeshaus des Landschaftsverbandes Rheinland in Köln ihren Anfang nimmt.
So lautet in kurzen Worten eine Erfolgsgeschichte, die sich vielen Faktoren verdankt. Natürlich stehen die beeindruckenden künstlerischen Fähigkeiten der Teilnehmer im Zentrum. Dass eine kreative Werkstatt darüber hinaus aber auch Konstanz und somit Organisation braucht, ist eine Binsenweisheit. Keine Gruppe höchst unterschiedlicher Charaktere überlebt 17 Jahre ohne einen Menschen, der sich verantwortlich fühlt, ausgleicht und Anregungen gibt. Auch werden die Persönlichkeiten dieser Gruppe durch ihn immer wieder zusammengeführt zu Projekten, sei es zum Thema „Erlkönig“ oder „Zauberlehrling“. Raúl Avellaneda ist mit Leib und Seele der ruhende Pol in der quicklebendig brodelnden Kreativküche des Nebelhorns.
An diesen zentralen Komplex lagern sich weitere Faktoren an, die für ein längeres, erfolgreiches Arbeiten unverzichtbar sind. So wurde schon im November 1996 ein Verein zur Sicherstellung der kreativen Arbeit gegründet. Bald mussten neue Orte gefunden werden, nachdem das Behindertenwohnheim „Haus Kilian“ in Schermbeck nicht mehr als Atelier genutzt werden konnte. Nach einem Zwischenspiel in einem ungenutzten historischen Kirchenraum, der aber wegen Baufälligkeit kurze Zeit später verlassen werden musste, fand die Gruppe bis heute ihre Werkstatt – ihr Zentrum – in der Einrichtung für nicht sesshafte Menschen „Lühlerheim“. Bewohner dieser Einrichtungen wurden fortan in das Projekt mit einbezogen. Ausstellungen auf dem Gelände des Lühlerheims und an vielen anderen Orten erzählen eine Erfolgsgeschichte.
Aber warum sind wir als Besucher der Werkstatt, als Betrachter in der Ausstellung, als Käufer und Sammler dieser Bilder so angesprochen von diesen Werken? Was macht ihre spezifische Qualität aus? Oder, besser noch gefragt: Wieso können wir überhaupt die Qualität der ausgestellten Werke erkennen und würdigen? Wir schauen auf die Werke, wir lesen die Biographien der Künstler, die Statements zu ihren Bildern – aber schauen wir auch auf uns selbst? Nehmen wir einmal die in der Ausstellung gezeigten „Spiegelbilder“ als Anregung für uns als Betrachter. Ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir diese Arbeiten als faszinierende Kunstwerke betrachten? Natürlich ist es das nicht. Eine lange Geschichte steht hinter unserer Faszination, ob wir es nun bewusst reflektieren oder uns naiv und vermeintlich unvoreingenommen auf diese Werke einlassen. Wäre Johann Wolfgang von Goethe als Mann des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts unter uns, bekämen wir etwas ganz anderes zu hören! Wer den großen Dichterfürsten im Originalton erleben möchte, lese die Eintragungen seiner italienischen Reise vom 9. April 1787. Goethe besuchte an diesem Tage die zu Beginn des 18. Jahrhunderts gebaute Villa Pallagonia in Bagheria, nahe Palermo. Als Vertreter seiner Zeit und gerade auch der Weimarer Klassik, ereiferte er sich über diese ungewöhnliche Villa mit ihren Monsterskulpturen, ihren bunten Fenstern, ihren ungewöhnlichen Einrichtungsgegenständen. Abwertendes Urteil: das Werk eines Wahnsinnigen! Kein Wort des Erstaunens, der positiven Faszination – nur Abscheu, Widerwillen und der Wunsch, diesen Ort baldmöglichst zu verlassen. Dies waren die Stimmung, die Auffassungen und die Reaktionen seiner Zeit. Das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts konnte in den Bildern von psychiatrischen Patienten oder „Outsidern“ des hochoffiziellen Kunstbetriebs nur Verrücktheiten erkennen. Psychiater legten zwar erste Sammlungen der Bilder ihrer Patienten an, aber diese Zeichnungen, seltener Gemälde und Objekte waren in erster Linie Dokumente von erkrankten Menschen. Eine Wertschätzung wurde diesen „Hervorbringungen der Krankheit“ nicht entgegen gebracht, von „Kunst“ redete erst recht niemand. Erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts begann ein Wandel in der Wahrnehmung sich abzuzeichnen. Entscheidenden Anteil daran hatte der Psychiater Hans Prinzhorn mit seinen bis heute in 7. Auflage erhältlichen Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922). Allerdings vermied auch er es noch, im Titel des Buches von Kunst zu sprechen! Dass die damals begonnene Entwicklung jählings durch die Herrschaft der Nationalsozialisten unterbrochen wurde, ist bekannt. Ihren traurigen Tiefpunkt fand sie in der Ausstellung „Entartete Kunst“, in welcher Bilder von psychiatrischen Patienten der Sammlung Prinzhorn als entwertende Vergleichsbilder gezeigt wurden.
Erst nach dem 2. Weltkrieg setzte eine bis heute kontinuierlich wachsende Wahrnehmung für die „Art brut“, die „Outsider“, die „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie“ ein. Den Bildern von Außenseitern des Kunstbetriebs wie auch der Gesellschaft, von psychiatrischen Patienten, von Behinderten, von Kindern und Laien wurde eine immer größere Aufmerksamkeit zuteil. Nach Überwindung vieler Beschränkungen des Sehens und Urteilens über bildnerische Äußerungen können heute die künstlerischen Qualitäten in vielen Bildern, Skulpturen und sonstigen Gestaltungen erkannt werden. Auf Kunstmessen wie der „Art Cologne“ werden diese Bilder angeboten, in den USA gibt es sogar eine eigene Messe, die „Outsider art fair“ in New York.
Mit unserer Wahrnehmung der künstlerischen Qualitäten stehen wir auf den Schultern vieler enthusiastischer Künstler, Ärzte und Kunsthistoriker, die uns den Weg zu diesen Kunstwerken mit ihrer Arbeit geebnet haben. Jetzt ist ein roter Teppich ausgerollt, auf dem wir uns diesen Kunstwerken nähern können.
Doch Vorsicht! Es handelt sich hier nicht einfach nur um Kunst, um schöne Bilder. Hinter diesen Bildern stehen Menschen mit ihrer Lebensgeschichte, Menschen, die vom Leben keineswegs verwöhnt worden sind, die oft ein schweres, manchmal kaum erträgliches Schicksal zu bewältigen haben. Das ist ein Teil der Authentizität dieser Bilder, ihrer Ernsthaftigkeit, ihres existentiellen Gehaltes. Es ist keine „l‘ art pour l‘ art“, die Werke sind dem Leben abgerungen, einem Leben, das durch die Werke uns in manchen Fällen bedrängend anspricht. Oft können wir diesen Hintergrund, vor dem diese Bilder entstanden sind, nur wie durch einen Nebel wahrnehmen. Die Kunstwerke sind dann Nebelhörner, die mit ihren tiefen Tönen zu uns durchdringen, Kontakt aufnehmen, uns berühren – nachdem wir über einen langen Zeitraum hinweg gelernt haben, auf diese Mitteilungen zu hören, zu reagieren. Nebelhörner sind Schallsignalgeräte für Schiffe im Nebel. Sie schützen den Signalgeber und denjenigen, der ihm entgegen kommt. Also eine treffende, stimmige Bezeichnung für Bilder und vor allem eine Gruppe von Menschen, die diese Bilder uns zeigen. Ein Dank auch an den Kapitän, der dieses Schiff seit fast zwei Jahrzehnten durch den Nebel steuert.
Dr. med. Hartmut Kraft, Facharzt für Nervenheilkunde, Psycho- und Lehranalytiker in Köln.
Sammler, Autor und Ausstellungsmacher. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Grenzbereichen zwischen Medizin, Psychoanalyse, Kunst und Ethnologie. Aufbau eigener Sammlungen, u.a. „Die Geburt des Menschenbildes: Die Kopffüßler“ und „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie“.