Flucht
Ein Projekt der Gruppe Nebelhorn
Von Raúl Avellaneda
Seit 1995 ist das Atelier der Gruppe Nebelhorn ein Zufluchtsort. Menschen mit ganz unterschiedlichen Schicksalen und außergewöhnlichen Lebenserfahrungen – selbst oft Opfer von Ausgrenzung und Diskriminierung – treffen sich dort, um gemeinsam künstlerisch zu arbeiten.
Die Abgeschiedenheit der Werkstatt ist dabei kein Hindernis, den Weg dorthin zu finden. Fast täglich kommen Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung zusammen, um in gegenseitigem Austausch und in vertrauter Atmosphäre durch schöpferische Prozesse Bilder zu schaffen, die für ihr Anderssein von großer und existenzieller Bedeutung sind.
Verborgene Problematiken, Ängste und Konflikte finden so den notwendigen Raum, um in der Gemeinschaft freier künstlerischer Ausdruck zu werden.
Kreativität in all ihren Facetten bietet uns Menschen die Chance, Wege aus unseren jeweiligen Schwierigkeiten zu entwickeln. Wir haben von Kind an gelernt sehr erfinderisch zu sein, um vor all den Problemen zu entfliehen, die wir als belastend empfinden: traumatische Erfahrungen, Angst, Einsamkeit, Hunger, Gewalt, Not, Krieg, Verfolgung. Wir flüchten vor den Gefahren, durch die wir unsere innere und äußere Existenz bedroht sehen. Nicht gelungene Fluchtversuche sind oft Ursachen von schweren körperlichen und psychischen Leiden, Auslöser von Süchten und sie führen nicht selten zum Tod.
Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, das Thema Flucht mit den Teilnehmern der Gruppe Nebelhorn als künstlerisches Projekt zu entwickeln, musste ich an die aktuellen globalen Entwicklungen und an Bilder von unlösbaren Lebenssituationen denken und stellte mir verschiedene Fragen:
Was bewegt einen Menschen zur Flucht?
Über welche Vorstellungen von Flucht sprechen wir überhaupt?
Welche Bedeutung hat das Thema „Flucht“ für die einzelnen Mitglieder der Gruppe Nebelhorn?
Ich stellte mir vor: Wir befinden uns an einem wunderschönen Ort. Diesen Ort haben wir uns ausgesucht, um glücklich zu sein. Hier erleben wir Freiheit und Frieden. Ein paradiesischer Platz also, an dem wir so sein können wie wir möchten.
Stellen wir uns nun vor, dass um uns ein grauer Käfig entsteht, in dem wir eingesperrt sind und mit unseren Wünschen und Erinnerungen allein gelassen werden.
Als ich mitten im Atelier einen Käfig aufbaute, um eine sinnliche Anregung als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Problematik des Flüchtens zu schaffen, erwartete ich nicht, dass mehrere Teilnehmer diesen Käfig als Ort ihrer inszenierten Flucht nutzen würden. Der Rückzug aus der „großen bösen Welt“ in den kleinen überschaubaren und geschützten Raum wurde zum Spielort. Selbst die Chance auf eine Befreiung wurde bewusst abgelehnt oder deren Sinn in Frage gestellt.
Flucht verlor hier seine ursprüngliche Bedeutung und kehrte sich zu einer Flucht ins Innere.
Bei der Verwirklichung des Projektes wurde mir deutlich, dass es sich hier um sehr individuelle Ansichten von Flucht handelte, persönliche Erfahrungen aus unterschiedlichen Perspektiven: Flucht ins eigene Ich als eine Art innere Emigration, Flucht in die Sucht als Betäubung bei gescheiterter Identitätsfindung, Flucht in Traumwelten als Verdrängung der Realität, Flucht vor Gefangenschaft und schließlich auch Flucht vor Krieg und Verfolgung sowie die Flucht in den Tod.
Das Atelier der Gruppe verwandelte sich in eine Spielbühne für die unterschiedlichen multimedialen Auseinandersetzungen mit dem Thema: Zeichnungen, Collagen, Malereien, Foto- und Filmsequenzen, Rauminstallationen, mobile Skulpturen nahmen immer mehr Gestalt an.
Im gegenseitigen Austausch ergaben sich immer neue Fragen.
Fragen, deren Antworten nach bildnerischen Formen verlangten: neue ästhetische Herausforderungen, gemeinsame Dialoge auf einem Blatt Papier oder Filminszenierungen als Träger persönlicher Botschaften.
Diesmal war nicht nur die geschützte Atmosphäre im Atelier in Schermbeck der Ort des Geschehens, sondern auch die Städte Leipzig, Wesel und Duisburg wurden zu Schauplätzen der Aktivitäten der Gruppe.
Eine besondere Rolle spielte das alte, großzügige Gebäude der Trapp-Hallen in Wesel. Hier bot die Gruppe Nebelhorn offene Ateliers an und lud die Öffentlichkeit zum Mitwirken ein.
In diesem ungewöhnlichen Raum entwickelte Nebelhorn gemeinsam mit Musikern der Gruppe TonAkut Inszenierungen in denen bildende Kunst, schauspielerische Darstellung und Musik Freiraum gaben für außergewöhnliche Performances.
Fast neun Monate ist es her, dass das Thema Flucht sich in das Atelier der Gruppe Nebelhorn „hineinschlich“, fast unbemerkt und in behutsamer Form, so wie es einem manchmal im Traum ergeht. Irrationale Zusammenhänge aus dem Unbewussten, mahnend und erläuternd, machen uns wach, beunruhigen und verlangen nach Ausdruck.
Die Bilder, die in diesen traumähnlichen Zuständen geschaffen wurden, präsentiert die Gruppe Nebelhorn nun mit dieser Ausstellung der Öffentlichkeit.
Sie verstehen sich als aufklärerische Spiegelbilder, welche uns unsere oft verdrängten Fluchtversuche bewusst machen möchten.
Schermbeck, Oktober 2017
Filme
Fotogalerie
TRAPP-Hallen Wesel
Fotos: Raúl Avellaneda, Angelika Kettner, Angelika Tenbergen
Fotogalerie
Städtisches Museum Wesel
Fotos: Raúl Avellaneda
Das Projekt wurde gefördert mit Landesmitteln des Kulturraums Niederrhein und außerdem von der Gold-Kraemer Stiftung und dem Verein Nebelhorn.