Ausstellung des Projektes „Grenzüberschreitungen“ in Berlin 15. Juli – 09. August 2022

Grenzüberschreitungen

ein Projekt der Gruppe Nebelhorn

von Raúl Avellaneda

-Die Gruppe

Im Jahr 1995 gründete sich die Gruppe Nebelhorn in Schermbeck am Niederrhein. Die außergewöhnlich familiäre Atmosphäre des Ateliers und das spürbar gewonnene Gefühl von Schutz und Freiheit innerhalb der Räumlichkeiten in Schermbeck hat über längere Zeit alle Beteiligten an unterschiedlichen künstlerischen Aktivitäten dazu bewogen, sich mit unausgesprochenen Konfliktthemen zu beschäftigen. Mit großer Hingabe stellen die Mitwirkenden ihre verdrängten „Lebensverletzungen“ in Bildern, Fotografien, Filmen und Plastiken mit überzeugender Kraft dar.

Das Prinzip der gemeinsamen Arbeit basiert auf einer gleichberechtigten Behandlung aller Teilnehmer. Die Selbstverständlichkeit innerhalb der Gruppe den Anderen zu achten, zu respektieren und in Konfliktsituationen Hilfe zu leisten ist seit ihrer Gründung stark verankert.

-Das Projekt

Die Überschreitung von Grenzen erleben wir auf unterschiedlichen Ebenen. Wenn die Macht anderer auf unsere persönliche und individuelle Lebenshaltung einwirkt, erleben wir das Gefühl der Ohnmacht. Ungerechte bestehende gesellschaftliche Strukturen schränken vor allem das Leben der Schwächeren ein. Besonders Menschen mit Behinderung erleben beinah täglich die Missachtung ihrer Grenzen. Wenn sie aber mit ihrem gesunden Menschenverstand den Versuch wagen, sich dagegen zu wehren, erfahren sie bald die institutionelle Repression: Erzieherische Maßnahmen im erwachsenen Alter oder das Einsetzen von Psychopharmaka lassen dann nicht lange auf sich warten.

Im Sommer 2019 begann die Gruppe Nebelhorn sich mit dem Thema Grenzüberschreitungenauseinanderzusetzen.

Ursprünglich war angedacht, über einen Zeitraum von 18 Monaten mit allen gesellschaftlichen Gruppierungen mit und ohne Behinderung eine intensive Begegnung in Ateliers und in öffentlichen Räumen in Nordrhein-Westfalen und in Berlin herbeizuführen.

Die ersten Begegnungen fanden in Ateliers in Schermbeck und Wesel statt. Anschließend wurde der Projektraum vom Kunstquartier Bethanien in Berlin ein beliebter Ort, um in Form von offenen Ateliers, Menschen zu bewegen, in diesem kreativen Prozess teilzunehmen. Dort entstanden zahlreiche Bilder und fanden öffentliche Performances statt in denen die Besucher angeregt wurden sich einzubringen und mitzuwirken.

Im Zusammenspiel von Gesprächen, Schriften, theatralischen Darstellungen und improvisierter Musik fand ein außergewöhnliches Zusammenspiel zwischen allen Teilnehmern mit dem umfangreichen Thema „Grenzüberschreitungen“ statt. Mittels ihrer Kreativität wurden die Ideen in überzeugende multimediale Methapern umgesetzt.

Nun, damals erahnten wir nicht, dass bald die grenzüberschreitende Corona-Pandemie die ganze Welt in Atemnot versetzen und somit die geplante weitere Entwicklung des Projektes gefährden würde. 

Das von der Gruppe bis zum Einbruch der Pandemie benutzte rot-weiße Gefahrenband wurde zum Sinnbild der Absperrung und Grenzsetzung für den Kampf gegen einen unbekannten tödlichen Virus.

Bald erfuhren wir alle die Konsequenzen der Ausgrenzung und Isolierung am eigenen Leib: Die Missachtung mehrerer Grenzen die unsere ersehnte Freiheit massiv gefährdete. Besonders die Menschen mit Behinderung erfuhren die verheerenden einschränkenden Folgen der grenzüberschreitenden Corona-Pandemie.

Auch die Angst vor dem bevorstehenden Krieg hinterließ Spuren in der weiteren Entwicklung des Projektes.

Der Tod war allgegenwärtig. Die Angst, das Leben zu verlieren wurde in uns allen wach, als ob sie aus der Tiefe unserer Urängste auf eine brutale und rücksichtslose Weise als Hauptgedanke in unser Dasein eingedrungen sei.  

Menschen mit Handicap erlebten besonders die Wirkung dieser weltweiten Tragödie.

-Die Arbeit in Zeiten der Corona-Pandemie

Im eigenen Haushalt eingesperrt, isoliert und verängstigt erlebten wir einen alptraumähnlichen Zustand. Jeder versuchte verzweifelt neue Möglichkeiten der Kommunikation zu finden. Die von vielen zunächst abgelehnte virtuelle Begegnung übernahm eine wichtige Rolle als Möglichkeit dieser Situation zu bewältigen.

Bewogen von der starken Notwendigkeit trotz aller Corona-Einschränkungen den zwischenmenschlichen Kontakt für das Projekt aufrecht zu erhalten, gründete Nebelhorn eine WhatsApp-Gruppe. Hier hatten wir die Gelegenheit über Wort, Bild, Film und Ton miteinander zu kommunizieren. Beinah 100 Teilnehmer trafen sich fast täglich auf dieser Plattform und tauschten ihre kreativen Vorstellungen und Gedanken zum Thema Grenzüberschreitungen aus.

Bilder, von einem zum anderen gesendet, wurden online verändert und ergänzt. Ton- und Filmbotschaften regten zur weiteren schöpferischen

 Arbeit an. Die geografischen Entfernungen konnten so überwunden werden. Menschen, die in der Vergangenheit im Atelier der

 Gruppe mitgewirkt hatten und auf anderen Kontinenten leben, fanden den Weg zurück zur Gruppe und konnten so Anteil an der künstlerischen Arbeit nehmen.

Diejenigen die sich nicht an den virtuellen Möglichkeiten beteiligen konnten, nahmen im Sinne einer Stillen Post an der gemeinsamen Gestaltung von Zeichenbüchern und Bildern die hin und her versendet wurden teil.

In einigen Wohnheimen fanden eingeschränkte Begegnungen in abgetrennten Bereichen unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen statt.

Hinter Masken und mit dem unausweichlichen Geruch nach Desinfektionsmitteln und Gummihandschuhen konnten wir das Projekt fortsetzen.

Wesel, Juni 2022

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